Wer sein Leben trackt, hat das Gefühl für sich selbst verloren, so geht ein gängiges Vorurteil. Das nicht stimmt – das eine kann das andere befördern. Was sich an den Erfindungen eines Schweden und eines Finnen belegen lässt.
Nach allem, was wir von Gunnar Anders Valdemar Borg wissen, mochte er Menschen. Der Schwede war fasziniert von dem, was Leute antreibt, was sie fühlen, was ihre Werte sind – kein Wunder, dass er Anfang der 1950 anfing, Philosophie und Psychologie zu studieren. Borg liebte aber auch Sport, vor allem der Spitzensport übte einen überwältigenden Sog auf ihn aus. Denn da waren Skilangläufer, Ruderer, Handballer, die ständig über das hinausgingen, was andere, normale Menschen – solche wie er – zu leisten imstande waren. Aber er beobachtete auch Freizeitsportler, die scheinbar immer wieder die eigene Leistungsgrenze durchbrachen. Wie kam das bloß? Überhaupt: Was passierte in deren Körpern und vor allem Köpfen? Diese Frage ließ ihn einfach nicht los.
1962 stellte Gunnar der Welt die Borg-RPE-Skala vor, eine Tabelle, mit der Sportler ihr persönliches Erschöpfungsempfinden einschätzen sollten. RPE steht dabei für „Ratio of Perceived Exertion“ – übersetzt in etwa: die Quote der angenommenen Erschöpfung. Dabei ging Borg davon aus, dass die Belastung bei sportlicher Aktivität zum Beispiel mit einer Herzfrequenz von 100 leicht sei und bei 170 schwer. Er dividierte die Herzfrequenz durch zehn und begrenzte seine Skala mit den Werten 6 (sehr, sehr leichte Belastung) und 20 (zu schwer, fast nicht mehr aushaltbar).
Doch Borg merkte schnell: Die bloße Herzfrequenz macht noch kein Empfinden. Und auch seine Kollegen interessierten sich mehr und mehr für die feineren, individuellen Parameter – auch jene, die nicht so ohne weiteres messbar sind. Und trotzdem war es die Messbarkeit, der die Borg-Skala ab den 1980ern eine andere Art von Einordnung verlieh. Mittels eines Geräts, das ein Land weiter östlich in den nordfinnischen Wäldern entwickelt wurde – dort nämlich erfand Seppo Säynäjäkangas, Professor für Elektrotechnik an der Universität von Oulu, vor etwas mehr als 30 Jahren die erste kabellose Pulsuhr der Welt. Die Firma ist heute weltweit bekannt und ein Vorreiter in der Branche. Wir sprechen von „POLAR“.
In einem großangelegten Versuch Ende der 1980er versorgten Wissenschaftler sowohl Profisportler als auch Amateure sowie ambitionierte Hobbyathleten mit den neuartigen Pulsuhren. Sie gaben den Läufern die Aufgabe mit, ihr Training auf der Borg-Skala im mittleren bis mäßig schweren Bereich zu absolvieren. Nach der Einheit wurden die Probanden zunächst interviewt: Wie war’s, wie habt ihr euch gefühlt, wo auf der Borg-Skala sortiert ihr euch ein? Die Antwort war geradezu unisono: mittel bis schwer, das sei ja schließlich die Aufgabe gewesen. Erst danach schauten sich die Forscher die Daten an, die von den Pulsuhren aufgezeichnet worden waren.
Keiner der Sportler hatte sich im mittleren Bereich bewegt. Ausnahmslos alle trainierten im Bereich schwer bis sehr schwer. Oder, um es sehr anschaulich zu formulieren: hart an der Kotzgrenze.